DFG-Projekt: Das Eheverständnis des Pietismus im Alten Reich (ca. 1680-1750)

Der Pietismus gilt als die bedeutendste Reformbewegung des europäischen Protestantismus seit der Reformation, deren Prägekraft bis in die Gegenwart reicht. Im Anschluss an die Reform von Theologie und Kirche im 16. Jahrhundert zielte der Pietismus auf eine „Reformation des Lebens“, auf eine Erneuerung der christlichen Frömmigkeit und Lebensführung. Der Gestaltung von Ehe und Familie als Grundformen menschlicher Sozialität kam dabei besondere Bedeutung zu. Wiewohl sich im Pietismus um 1700 markante Veränderungen gegenüber dem tradierten Eheverständnis des Protestantismus erkennen lassen, haben sie bislang weder in der kulturgeschichtlichen Forschung noch in Kirchen- und Theologiegeschichte eine angemessene Aufmerksamkeit gefunden.
Ziel des Forschungsvorhabens ist es, die Änderungen im Eheverständnis des Pietismus gegenüber den seit der Reformation vorherrschenden Überzeugungen im Zusammenhang und auf ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund zu untersuchen. Es geht von der Arbeitshypothese aus, dass längerfristig wirkende „heterodoxe“ Strömungen theosophischer, mystischer und mystisch-spiritualistischer Provenienz den Wandel des Eheverständnisses maßgeblich beeinflussten. Die Studie beschränkt sich aus arbeitsökonomischen Gründen auf eine theologiegeschichtliche Grundlegung der Themenstellung, ohne soziale, kulturelle und konfessionelle Rahmenbedingungen, Formen und Folgerungen aus dem Blick zu verlieren.
Die Untersuchung geht in drei Schritten vor. Zunächst sind die Ehetheologie und praxis der Reformation (einschließlich der des Täufertums) und der altprotestantischen Orthodoxie zu skizzieren sowie die sozioökonomischen, kirchlichen und kulturellen Rahmenbedingungen von Heirat und Ehe um 1700 in Grundzügen darzulegen. Damit werden die theologiegeschichtlichen Voraussetzungen und die soziokulturellen Rahmenbedingungen der pietistischen Eheauffassung als Folie für die nachfolgende Analyse bereitgestellt. Der Hauptteil der Studie wird die partielle bis entschiedene Abkehr von der reformatorischen Wertschätzung der Ehe und von der moderat positiven Haltung zur ehelichen Sexualität im Pietismus anhand markanter Positionen auf ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund darstellen. Neben Philipp Jakob Spener, Gottfried Arnold, Ernst Christoph Hochmann von Hochenau, Charles Hector de St. George Marquis de Marsay werden die Sophiologie der englischen Philadelphier und Johann Georg Gichtels sowie ggf. weitere Einflüsse in die Untersuchung einbezogen. Besondere Aufmerksamkeit wird die in der Forschung verschiedentlich beachtete, aber noch nicht gründlich untersuchte eigentümliche „Ehereligion“ Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs mit ihrer von der mittelalterlichen Brautmystik und philadelphischen Vorstellungen geprägten Sakralisierung von Ehe und ehelichem Geschlechtsverkehr erhalten. Ein abschließendes Querschnittskapitel wird anhand der signifikanten Themen Sexualität, Partnerwahl und fromme Biographik kulturgeschichtliche Implikationen des pietistischen Eheverständnisses exemplarisch aufzeigen.
Die Studie möchte damit den Pietismus als einen Faktor für den religiösen und kulturellen Wandlungsprozeß namhaft machen, in dem Ehe und Sexualität im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend dem öffentlichen Raum entzogen und individualisiert, moralisiert und domestiziert wurden (Isabell Hull, 1996).